Im Wiener Lustspielhaus, wo gerade die Spielsaison mit „Der eingebildete Kranke – neu verschrieben“ läuft, geriet ein Gastspiel des Erzählers, Schauspielers und Kinderbuchautors Erich Schleyer, gemeinsam mit der Band SainMus zur Aufführung. „Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“ ist ein Märchenpotpourri, welches nicht an brutalen Szenen und erotischen Anspielungen spart.
Deshalb ist auch extra ausgewiesen: Nur für Erwachsene. Aber Märchen, waren ursprünglich eben auch nicht für Kinder gedacht. Sie waren keineswegs harmlos. Sie hielten dem menschlichen Selbst einen Spiegel vor. Denn es läuft – auch laut Erich Schleyer – nicht immer alles im Leben so honigkuchen-mäßig. Die dunkle Seele wurde beleuchtet.
Schleyers erhobene und mächtige Stimme, die er immer wieder Grenzen ausloten lässt, wischt den Regen, der auf das Dach des Lustspielhauses enorm trommelt, einfach weg. Der Satz: „Glauben Sie mir ruhig, es wird heute auch noch bei uns donnern!“, sorgt für Gelächter im Publikum.
Die Blindschleiche und die Nachtigall eröffnen den Märchenreigen:
Ein äitologisches Tiermärchen der Gebrüder Grimm. Spannend in den ersten Zügen, lehrreich im Ausgang. Jedes der Tiere besitzt nur ein Auge. Als die Nachtigall sich schließlich von der Blindschleiche ein Auge leiht, und es nicht retourniert, droht die Schlange, sich zu rächen, an Kindern und Kindeskindern der Nachtigall. Aber diese spottet nur:
„Ich bau mein Nest auf jene Linden,
so hoch, so hoch, so hoch, so hoch,
da magst du’s nimmermehr finden!“
Die Brüder Grimm – Wilhelm und Jakob – wobei der Zuschauer erfährt, dass Wilhelm der Träumer war und Jakob der Exakte, sammelten also recht grausame Märchenstoffe.
Auch Rapunzel zählt zu den grausamen Märchen, weil ein Kind geraubt wird, und von der bösen Zauberfigur mitgenommen wird, nur weil die werdende Mutter unstillbare Gelüste hat. Wenn dann der Prinz zum Turme geritten kommt, tut er das nicht still und heimlich. Nein, der Erzähler unterstützt die Szene mit viel Körpereinsatz, indem er den trabenden Traumprinzen auf dem Pferd mit lüsternen Absichten nachstellt. Erst in der Wüste können die beiden dann miteinander glücklich werden. So manches Märchen folgt eben auch noch der Formel: ….und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!
Es ist nicht zu übersehen, dass Erich Schleyer mit Freude sein – diesmal erwachsenes – Publikum unterhält. Noch mehr freut er sich darüber, dass ihn zwei musikalisch sehr talentierte Herren begleiten: Philipp Erasmus und Clemens Sainitzer, zusammen das Duo SainMus, an der Gitarre und am Cello. Sie verausgaben sich und sind sogar manchmal etwas frech, wenn sie ein paar Märchenstrophen von selbst zu Ende erzählen.
Wenn es nicht eine schlimme Parabel auf eine Freundschaft mit Hintergedanken wäre, so müsste man bei der Begebenheit der Leberwurst und der Blutwurst Tränen lachen. Die Leberwurst besucht also nichtsahnend die Blutwurst. Eine verwurstete, und tragische Geschichte, hat doch die eine Wurst der anderen Wurst nach dem Leben getrachtet. Schleyer gestaltet dies so lebendig, dass man sofort ein konkretes Haus vor Augen hat, wo das abgelaufen sein könnte. Die innere Fantasie anzuregen, ist ein Talent des Künstlers (wohl seit Jahrzehnten kultiviert).
Hänsel und Gretel als Kannibalenmärchen, wo Hänsel erst gemästet werden müsste, um „schön fett zu werden“. Aber am Ende muss doch die böse Alte daran glauben.
Rotkäppchen, von diesem Märchen kam man an diesem Abend kaum los: Zahlreiche Adaptierungen, sogar eine, entstanden während der NS-Gräuelzeit, wurden vorgetragen.
Während der erste Teil des Märchenabends flott und locker, sowie sehr unterhaltsam und in angenehmer Länge abläuft, ist die zweite Hälfte dann eher ein wenig zähflüssig: eine Überlegung wäre es wert, hier ein paar Einsparungen bei sehr langen Passagen vorzunehmen.
Ein Abend, an dem bloße Berieselung stattfindet? Nein, wenn man das sucht, ist man hier falsch. Mitdenken und Reflektieren ist angesagt. Schleyer zeigt, dass Märchen genau genommen aktueller denn je sind.
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