Willkommen auf dem Schloss und guten Abend! So wird man bereits beim Treppenaufgang, nachdem man sich durch die Weinviertler Prärie „gekämpft“ und durch das Festspielbuffet gekostet hat, von Bariton Szabolcs Hámori ganz in Weiß, aber ohne Blumenstrauß empfangen. Er gibt die Rolle des Darlemont, des Leiters des Irrenhauses. Versprochen wird: „Die Inszenierung beginnt schon vor der Ouvertüre“. Musiktheaterkenner vermuten so etwas, nun weiß man, was gemeint ist! Man gelangt zum Maulpertsch-Saal (ein eigenartiger Name, „architektonisches Highlight des Schlosses, benannt nach Franz Anton Maulpertsch, Schöpfer des Deckenfreskos „Triumph der Wahrheit über die Zeit“). Der eigentliche Leiter der Festspiele, auch Bürgermeister von Neudorf im Weinviertel, Intendant des Viertelfestivals Niederösterreich, hält ebenso eine charmante Begrüßungsrede im Arztkittel. Diese Ironie muss sein! Es ist Stephan Gartner, der sogleich auf eine intensive Probenzeit und den heurigen Festspielwein, einen Weißburgunder Jahrgang 2022, hinweist. Während der Aufführung bitte keine Smartphones verwenden, schauen Sie es sich live an! Der Hinweis macht den Opernfreund, die Opernfreundin nachdenklich.
Alle Veranstaltungen im Schloss Kirchstetten finden in liebevollem Andenken an den kurz vor der Premiere im Alter von 90 Jahren verstorbenen Opernpräsidenten Dr. Georg Sobotka statt, der demnach „I pazzi“ leider nicht mehr miterleben kann.
Schloss Kirchstetten hat sich auf Belcanto-Opern spezialisiert. Mit der diesjährigen Vorstellungsserie begeht man eine österreichische Erstaufführung: I pazzi per progetto – etwa „Die absichtlichen Narren“ von Gaetano Donizetti. Uraufführung war bereits 1830 im Teatro San Carlo, Neapel. Und es gilt: „Tenor gibt’s keinen!“ Dreh- und Angelpunkt ist das Irrenhaus des Darlemont, der sich immer wieder auf einem Bürosessel feiern lässt und kaiserlich grüßt. Die Darstellerinnen und Darsteller geben sich alle Mühe, das Publikum glauben zu lassen, es sei wahrhaft in einer Anstalt. So „muss“ ein Zuschauer ein Glas mit Hirn in vermeintlichem Formaldehyd – hoffentlich nur Wasser – halten, bis er wieder davon befreit wird. Aus der zweiten Reihe wird ein Herr herausgeholt und ins Spiel eingebunden: „Ecco, son pazzo!“, der leicht überfordert wirkt und wie angewurzelt dasteht. Sind denn in Reihe 3, also ganz hinten, keine Freunde des Mitmachtheaters zu finden, möchte man meinen?! Denn die werden vom „Irrsinn“ auf der Bühne, besteht, verschont. Gespielt wird nur im relativ schmalen Durchgang durch den Saal (!) (Kontrollfrage: wo ist denn die Bühne? Nur damit – besonders hier im „Irrenhaus“- man seinen Sinnen trauen kann.) Für Freunde der majestätischen Tiere, der Großkatzen, ist zumindest der erste Teil eine Herausforderung. Da wird in Anlehnung an „Dinner for one“ (der „Scherz“ wird beim Schlussapplaus wieder aufgenommen) über einen armen Tiger, von dem nur der Kopf noch intakt scheint, gestolpert. Discostimmung ab Minute eins herrscht durch das Licht von Martin Kurz. Blaue Lampen strahlen! Aber es geht auch melancholischer, später, mit weißem Licht.
Die Norina, Nichte von Darlemont, Dora Garcidueñas – ein mexikanisches Talent – hat auf der Bühne viel zu tun: Springen, singen, mit dem Tiger tanzen, das „Auge“ eines Skeletts verspeisen. Sängerisch sticht sie auf jeden Fall an diesem Abend heraus. Andere wie die Patientin Cristina (gut in ihren Wahnsinnsszenen, verliert im Eifer des Gefechts einen Kunstnagel, die bekannte Sevana Salmasi mit ihrem schönen Mezzosopran) und Norinas Ehemann Colonel Blinval, Emilio Marcucci (der eine beeindruckende Bariton-Laufbahn vorzuweisen hat, optisch eine ansprechende Mischung aus Samy Molcho und Michael Niavarani ist) müssen sich auf einem Patientenbett, sie angebunden, niederlassen. Später spielt er selbst verrückt und will einen Dolch statt eines Stockes in seinen Händen halten. Dass Cristina in ihn verliebt sein soll und mit ihm sexuell bereits verkehrt haben soll, kommt wenig heraus, da muss man wirklich auf den Text zurückgreifen. Völlig unauffällig bis auf die Brille bleibt Venanzio, Cristinas Vormund, der sie für verrückt erklären lassen und beerben möchte, alias Matthias Almer.
Ein Lob an Dirigent Hooman Khalatbari und das Orchester Virtuosi Brunenses. Wirklich große Empathie zeigen sie alle.
Man fühlt sich an Paulus Mankers „Alma“ erinnert, die Ausstattung ist ähnlich! Allerlei Irres passiert die ganze Zeit über. Das Bemühen, den Schein aufrecht zu erhalten, setzt sich sogar in der großzügigen Pause fort: Der in seiner Rolle aufgehende Artem Paches (ein Talent von der MUK Uni Wien, besonders stark bei ihm ist die schauspielerische Komponente), notiert bei aus der Pause zurückkommenden Besuchern, wer wieder „in der Anstalt“ ist. Er ist eigentlich Militärtrompeter, der sich als Arzt ausgibt (vor Blinvals Regiment geflohen ist), und heißt noch dazu Eustacchio, er hat auch eine große Röhre! Er bietet „Tabletten“ an (keine Angst – nur in den Geschmacksrichtungen Orange oder Minze). Sonst auf Deutsch, antwortet er spontan auf ein „No, grazie, Signor!“ mit „Io lavoro“ (Ich arbeite). Antoine Amariutei als Diener Frank leistet Großartiges. Wie der Mann seinen schmalen Körper auf der schmalen Bühne verbiegt, sich zwischen Singende drängt, mit Popcorn im Mund – das er netterweise auf Wunsch auch ans Publikum verteilt – dem Drama zusieht und wieder mit dem Bürostuhl am Allerwertesten „flieht“, ist großes Kino! Wieselflink und stimmgewaltig! Elias Hladisch spielt das Faktotum mit Medizinkreuz – und Perücke (?). Wichtige Aufgaben werden von ihm erledigt. Er assistiert beim Instrumentenspiel (Geige und Keyboard von Blinval und Norina) das subjektiv gesehen doch beim Zusehen interessant ist, aber leider dann stark übertrieben wird! Da hat man den Eindruck „es müsse unbedingt zur Musik passen“.
Erfrischende, authentische Einfälle des witzigen Regisseurs Richard Panzenböck. Der überhaupt und überall den Schalk mitspielen lässt. Eine Anmerkung: Die Grenze zwischen Oper und Klamauk ist wahrlich schmal – man muss bei all der gespielten Aktion auch aufpassen, dass man sich nicht wiederholt oder die Darsteller allzu lang in ihren Posen verharren – bis dann mal gelacht wird. Petra Fibich-Patzelt hat den Saal zur Bühne gemacht. Ein schlichter schwarz-weißer Teppich markiert den Ort der Aktion. Geschminkt wird von Susanne Rauherz, die besonders die Damen fein ausstattet. Sehr weißlich fiel das Makeup aus, passend zur Stimmung.
Die Stimmen sind durchwegs auf gutem und hohem Niveau anzusiedeln, Donizettis Musik und Domenico Gillardonis Text machen Spaß. Man muss sich auf viele Wiederholungen gefasst machen („pazzo, pazzo, pazzo“). Manchmal ist es gerade einfach zu viel des Guten. Der Wirbel ist groß, Irrungen lösen sich, Blinval und Norina finden wieder zueinander, Eustacchio wird von Blinval begnadigt, doch am Ende finden sich alle beim Marschieren und Tanzen wieder. Ehrlicherweise ist die Handlung etwas untergegangen!
Großes Spiel auf der kleinen Bühne. Es geht sich alles zentimetergenau aus, wenn man auch die Reifröcke – die Kostüme stimmig in schwarz-weiß französisch angehaucht von Almasa Jerlagic – bedenkt. Eva Drnek leitet die Produktion. Man sollte jedenfalls damit rechnen, im Laufe des Abends „Besuch“ zu bekommen (außer Reihe 3). Es ist eine farsa, es ist (fast zu) lustig, die Rollengestaltungen sind fein! Man ist hautnah am Geschehen, kann die Sänger atmen sehen.
Erwähnenswert ist das bedingungslose Engagement des Intendanten, der in der Pause mit einem verlorenen Mobiltelefon durch den Saal ging, um es dem oder der Suchenden wieder zu übergeben. Oder hat es Eustacchio konfisziert, da man diese im Irrenhaus verbietet? Wer weiß..
Vorstellungen von I pazzi per progetto finden noch bis 10. August 2024 statt,
Weitere Informationen findet man auf der Homepage:
https://www.schloss-kirchstetten.at/program/oper-i-pazzi-per-progetto/
2025 steht Rossinis „L‘ occassione fa il ladro” auf dem Programm.