Zum Nachdenken über eine Realsituation mit einem fiktiven Charakter.
Gehen wir von der folgenden Situation aus: Ein Sänger oder eine Sängerin, mit überdurchschnittlich guter Ausbildung an einer renommierten Schule, einem renommierten Konservatorium. Er oder sie startet seine Karriere, überzeugt Intendanten, Agenten und Direktoren und wird für kleine Rollen gebucht, dann größere, wird dann mit Kollegen auf Tournee geschickt. Schließlich wird er/sie fixes Ensemblemitglied an einem Haus und tritt dann in fünf bis zehn Rollen regelmäßig auf.
Das klingt zuerst einmal sehr nüchtern. Nur wer sich jetzt in diesen Beruf (oder falsch! – diese Berufung) hineinversetzen kann, der erahnt, wieviel Schweiß, Blut und auch Tränen es kostet, seine Stimme auszubilden und zum Klingen zu bringen. Denn Sänger/Sängerin wird man nicht „einfach so“. Nur aus Spaß, aus Lust. Weil es die beste Freundin tut. Weil die Eltern sagen, mach es. Sänger/Sängerin IST man. Man hat eine Disposition, sei sie genetisch, sei sie einem in die Wiege gelegt.
Von der Tonleiter, hinauf, hinunter, vom tiefsten bis zum höchsten Ton, nicht jeder schafft das. Man muss seinen „Range“ finden. Hat man das alles dann „hinter sich“, hat man, nehmen wir ein Hausnummern-Beispiel, als Mann einen Don Giovanni, einen Alfredo Germont, einen Sharpless, als Frau eine Mimi, Tosca, Butterfly, Susanna gesungen und kommt an den Rand des Zenits, wo man dann schon mehr Konzerte und Recitals machen möchte als „nur“ auf der Opernbühne in vollen 3-Aktern aktiv zu sein, dann denkt man schon manchmal nach. Was gibt es für Möglichkeiten nach der Opernkarriere? Eine ist ganz klar die klassische Pension/Rente. Die andere ist eine beratende Tätigkeit, oder wenn man dafür geneigt ist, die Übernahme eines Hauses (genügend Erfahrung im Opernbetrieb müsste ja nun vorhanden sein – auch wenn sich manche Kritiker dagegen verwehren, dass Ex-Sänger als Direktoren zugange sind, zu verwoben seien sie im Denken.) Aber warum denn nicht?
Nun muss man sich einmal auf den Gedanken einlassen: Ein ganz „normaler“ Job. Eine 40-Stunden-Woche. Dieser Job neigt sich dem Ende zu, es gibt eine kurze Verabschiedung für die Pensionistin/den Pensionisten in spe, plus einen kleinen oder größeren Blumenstrauß, je nachdem wie hoch das Amt war, das er/sie bekleidete. Es wird dem Menschen alles Gute und eine ruhige Zeit mit den Enkeln gewunschen und dann war es das. Vielleicht ein kleiner Spruch aus dem Mund des Kollegen, der reichlich zynisch klingt: „Alt ist nur, wer nichts mehr vorhat!“
Wenn man Pech hat, folgt der große Pensionsschock. Wenn man versucht, DAS nun auf den Sängerberuf umzulegen: Man wird scheitern. Es gibt dafür drei primäre Gründe. Erstens: Ein Sänger hasst das Wort Pension. Er/Sie kann sich darunter nichts vorstellen. Du kannst schließlich nichts in Pension schicken, was dein Leben lang schon in dir ist: Deine Stimme. Zweitens: Singen entpuppt sich – im Gegensatz zu vielen anderen Tätigkeiten – als geradezu pathologischer Drang. Der Mensch muss sich durch diese Form ausdrücken, durch den Gesang sprechen. Drittens: Wenn ein Buchhalter (und jetzt: NICHTS gegen Buchhalter!) in Pension geht, kann er seinen Taschenrechner abgeben. Sagen Sie mir, wo ein Sänger seine Bühnenpräsenz abgeben kann? In der Garderobe, nachdem er „Sag beim Abschied leise Servus“ beim Peter-Alexander-Abend intoniert hat? Wohl kaum.